Innovationstheater - Ein Opernhaus, viele Weltstars und ein Übertragungswagen
Eine der angesehensten Spielstätten Russlands ist das Mariinskij-Theater im Stadtzentrum von St. Petersburg, dessen Geschichte sich bis auf das Jahr 1860 zurückverfolgen lässt. Doch jetzt hält die Moderne Einzug: mit dem Erweiterungsbau eines Stararchitekten und einem hauseigenen Ü-Wagen mit exzellent ausgestatteter Tonregie
Ungezählte Opern- und Ballett-Uraufführungen hat das ehrwürdige Haus in seiner langjährigen Tradition schon gesehen und auch in der jüngsten Vergangenheit mit hochklassigen Solisten wie Anna Netrebko oder Olga Borodina auf sich aufmerksam gemacht. Nun sollen ein Umbau des Hauses und ein benachbarter Neubau dazu beitragen, mit einer zweiten Hauptbühne die seit langem beengte Raumsituation zu entspannen und die musikalische Qualität langfristig zu sichern. Bis dahin allerdings bleibt die Bühne des Mariinskij-Theaters geschlossen und das Ensemble tourt mit seinen Inszenierungen durch andere Spielstätten.
Aus dieser Situation heraus entwickelte Waleri Gergijew, der für seine unkonventionellen Ideen bekannte Intendant des State Academic Mariinskij-Theaters, einen bisher einzigartigen Plan: die Spielstätte mit einem Übertragungswagen auszurüsten, der die auswärtigen Aufführungen aufzeichnet und eine anschließende DVD-Produktion ermöglicht. Optional könnte die Produktion sogar live nach St. Petersburg gesendet und dort über Großbildschirme dem heimischen Publikum vorgeführt werden.
Erst der Ton ...
Bei der Planung des Mariinskij-Ü-Wagens lag der Fokus eindeutig auf bester Tonqualität, während das Bild – obwohl in HD geplant – an Wichtigkeit in den Hintergrund trat. Zu erkennen ist dies bereits an der außerordentlich großen Tonregie, der größten, die der Systemintegrator Sony Professional Services UK je in einen Ü-Wagen eingebaut hat. Sie beansprucht etwa ein Drittel des Platzes in dem großen Ü-Wagen; die beiden anderen Drittel sind jeweils mit Bildregie und Bildtechnik belegt.
Die Audio- und Mischtechnik kommt aus dem Hause STAGETEC, schließlich wollte man sich an den besten Studiostandards orientieren. Das 48-Fader-AURUS ließ sich in der großen Tonregie längs zur Fahrtrichtung installieren. Dank der beidseitigen Auszüge entsteht in der dann nahezu fünf Meter tiefen Tonregie genug Raum, um die 5.1-Lautsprecher ideal in der großzügig bemessenen Regie unterzubringen und eine optimale Abhörposition zu ermöglichen. Das audioseitig vollbestückte AURUS bietet dank seiner sieben DSP-Karten die nötige hohe Anzahl an Kanälen, um eine gute Surroundaufnahme produzieren und mischen zu können.
Live und ohne Ausfall
Da der Schwerpunkt so eindeutig auf dem Ton liegt, maß man bei der technischen Planung einer hohen Audio-Betriebssicherheit großen Wert bei. Das mit 376 auf 280 Schaltpunkten recht umfangreiche NEXUS-Audionetz wurde mit voller Leitungsredundanz ausgeführt. In jedem Basisgerät stecken dafür zwei Glasfaserkarten, so dass nicht nur der Ausfall eines Glasfaserkabels, sondern auch der Ausfall einer XFOC-Steckkarte durch Redundanz abgesichert ist. Diese Vorgabe war besonders für die beiden mobilen Basisgeräte wichtig, wurde aber auch für die fünf Einheiten übernommen, die fest im Wagen installiert sind.
Auch von Seiten der Aufnahme war das Thema Sicherheit eine entscheidende Planungsgrundlage. Neben dem Hauptaufnahmesystem Pyramix ist zusätzlich ein Nuendo-System für Sicherheitskopien installiert. Insgesamt stehen damit zweimal 128 Aufnahmespuren und pro System je zwei Terabyte mit RAID Level 5 abgesicherter Speicherkapazität zur Verfügung. Falls das eines Tages nicht mehr ausreichen sollte, ermöglichen vier zusätzliche MADI-Leitungen das Einbinden weiterer externer Aufnahmegeräte in NEXUS.
Pyramix wird inzwischen von vielen AURUS-Nutzern eingesetzt. Entsprechend routiniert ließ sich auch die Fernsteuerung des Aufnahmesystems über AURUS realisieren. Von der einfachen Laufwerkssteuerung bis hin zur Spurscharfschaltung im Aufnahmebetrieb sind alle wichtigen Funktionen vom Mischpult aus steuerbar. Insgesamt sind bei diesem AURUS vier der 16 möglichen Fernsteuereinheiten in Verwendung. Die große Auswahl verschiedener Protokolle erlaubt es dabei, neben den Workstations auch Videomaschinen steuern zu können.
... und dann das Bild
Im Gegensatz zur Tonregie, deren Gerätegestelle fast vollständig gefüllt und deren Komponenten größtenteils bis zur maximalen Ausbaustufe erweitert wurden, sind in Bildregie und Bildtechnik noch viele Ausbauten möglich. Der Wagen ist mit 16 HD- und 2 Minikameras bestückt, aber bereits für den Betrieb von 26 Kameras vorverkabelt. Die Bildverkabelung erfolgt über HD-SDI, das über einen nVision-Router geschaltet wird. Selbstverständlich steht auch die bei TV-Ü-Wagen übliche Audio-follows-Video-Möglichkeit zur Verfügung, so dass NEXUS dem Bild folgend automatisch die Tonspuren einer Quelle umschalten kann. Diese Integration ging denkbar einfach vonstatten: Es musste lediglich die serielle Verbindung zwischen NEXUS und dem Videorouter aktiviert werden und schon funktionierte die Slave-Schaltung.
Oper oder TV?
Ein mit einem Übertragungswagen ausgestattetes Opernhaus dürfte weltweit ein Novum sein. Man darf gespannt auf die ersten Erfahrungen mit dem tonlastigen Theater-HD-Wagen sein, der erst vor kurzem, im Dezember 2007, nach St. Petersburg geliefert wurde. Der Gedanke, der diesem Projekt zugrunde liegt, ist aber durchaus ausbaufähig und legt nahe, dass sich nach der Einweihung der renovierten Mariinskij-Bühne auch eine langfristige Perspektive für eine bessere Plattform der russischen Oper im Fernsehen abzeichnet. Eine Bewährungsprobe ganz anderer Art hat der Ü-Wagen schon bestanden: Sein erster Großeinsatz fand im Februar 2008 im Rahmen der Vergabe des renommierten Laureus Sports Awards statt, dessen Feierlichkeiten aus St. Petersburg in 83 Länder übertragen wurden.
Das goldene Wagnis
Ein Kern aus schwarzem Granit, überwölbt von einer riesigen, wabenartigen Hülle aus goldgetöntem Glas – mit diesem avantgardistischen Entwurf gewann der nicht unumstrittene, französische Stararchitekt Dominique Perrault im Jahr 2003 den internationalen Wettbewerb für einen Erweiterungsbau des traditionsreichen Mariinskij-Theaters in St. Petersburg.
Der 100 Millionen US-Dollar teure Anbau wird sich nun – mit dem Altbau über eine Brücke verbunden – jenseits des Krykow-Kanals ausdehnen. Klein dimensioniert ist hier nichts: Foyers, Restaurants und Galerien lagern sich unter dem goldenen Kokon um den Kernbau, der Platz für einen Konzertsaal mit 2000 Plätzen, für fünf Nebenbühnen, Orchester-, Chor- und Ballettprobesäle bietet. 2009 soll das architektonisch wagemutige neue Theater fertig gestellt sein und nach dem Willen der Stadtverwaltung zum Symbol der modernen und westlichen Ausrichtung der Millionenstadt an der Newa werden.